Q2 · 2018Widrigkeiten annehmen –Leistungsgrenzen neu definieren

Was unterscheidet einen guten Mitarbeiter von einem exzellenten Leistungsträger? Was macht die Besten zu den Besten?

Auf diese Fragen liefert die Geschichte von Michelle Gisin Antwort. Einiger Widrigkeiten zum Trotz gewann Sie bei den olympischen Winterspielen in Korea Gold in der Alpinen Kombination. Ihre Geschichte kann uns allen eine eindrucksvolle Lehre sein.

Perfekte Vorbereitung

Seit vier Jahren betreue ich Michelle als Leistungspsychologe und unterstütze sie darin, sich so vorzubereiten, dass sie bestmöglich performen kann. Als sie im Februar nach Pyeonchang zu den Winterspielen aufbrach, lag ihre beste Saison hinter ihr, mit vielen unerwarteten, atemberaubenden Erfolgen und Errungenschaften – unvergessliche, emotionale Momente inklusive. In der Saison 17/18 hatte sie an 30 Welt Cup Rennen teilgenommen. 19 davon beendete sie unter den besten 10 und 3 Mal errang sie einen Platz auf dem Podium.

In der Vorbereitung auf die Olympischen Spiele hatten wir uns um jedes Detail gekümmert. Sie konnte sich so nicht nur auf die Rennen fokussieren, sondern sich auch auf den Stress durch die Teilnahme an 4 Wettkämpfen an 2 unterschiedlichen Austragungsorten einstellen. Dieser straffe Zeitplan setzte sie nicht unerheblichem zusätzlichen Stress aus und durch den Umzug zwischen den verschiedenen Orten wurde dieser noch intensiviert. Michelles Bedingungen in der Vorbereitung auf den Olympischen Abfahrtslauf – dieselbe Disziplin, in der ihre Schwester Dominique vor vier Jahren in Sotchi Gold holte – waren herausfordernd. Allerdings waren sie auch genauso vielversprechend – sie selbst und jeder aus ihrem Coachingteam war von ihren guten Chancen auf eine Medaille überzeugt.

Wenn es nicht sein soll

Während des Abfahrtrennens verlor Michelle jedoch entgegen ihres Potenzials kontinuierlich wertvolle Zeit. Jede angezeigte Zwischenzeit machte das deutlich: es war immer nur ein kleines bisschen, aber das läpperte sich unerbittlich.

Doch es kam noch schlimmer: In der Zielgeraden geriet sie auf einmal ohne ersichtlichen Grund ins Straucheln und stürzte über die Ziellinie. Das Ergebnis: Gehirnerschütterung, Prellungen, Frustration und die bittere Enttäuschung keine Medaille geholt zu haben, sondern auf den 8. Platz gerutscht zu sein. Michelles Resultat war offensichtlich weit weg vom Möglichen gewesen. Nach wiederholter Analyse des Laufs, Beurteilung der taktischen Entscheidungen, die sie gefällt hatte, musste man sich dennoch fragen: Wie in aller Welt hatte sie so viel Zeit verlieren können? Die Antwort folgte noch am selben Nachmittag: Genau in diesem Lauf war ihr bestes Paar Rennski im Schnee «verbrannt» (was extrem selten passiert), so dass sie nicht den notwendigen Halt auf dem aggressiven Schnee finden konnte und aus diesem Grund im Ziel sogar vollständig die Kontrolle verlor.

Woran man Champions erkennt

Michelle erhielt während der ganzen Saison, und insbesondere auch an den Olympischen Spielen vor Ort fantastischen Support von ihrer Schwester Dominique, die Michelle nicht nur im Allgemeinen ausgezeichnet unterstützte, sondern auch und gerade in dieser kritischen Phase. Ich war während der Spiele nicht vor Ort in Korea, konnte aber per Skype meinen zusätzlichen Support leisten. So auch an diesem Nachmittag, um zu besprechen, was schiefgelaufen war. Mein Ziel war es, Michelle dahin zu bringen, die Ereignisse hinter sich zu lassen, um perfekt fokussiert an den nächsten und letzten Start gehen zu können – schon am nächsten Morgen.

Als ihr Leistungspsychologe war meine Schlüsselfrage: «Michelle, sag mir, wie reagiert jetzt ein Champion?» Sie dachte einen kurzen Moment nach und antwortete dann: «Ein Champion weiss: man kann es nicht erzwingen. Man muss Enttäuschungen loslassen. Sich dem vergangenen Lauf noch ein einziges Mal stellen und hart sein in der Analyse. Was habe ich richtig gemacht, was ich für Morgen mitnehmen kann? Ab dann: komplett abschalten. Und schliesslich: sich komplett nach vorne orientieren und das anstehende Olympiarennen vorbereiten.» Zum Abschied sagte ich ihr dann nur noch: «Du packst das – sei ein Champion!»

Geschichte schreiben

Am nächsten Tag schrieb Michelle Geschichte. Sie rauschte den Berg nur so hinunter, liess all ihre Mitstreiterinnen buchstäblich hinter sich und schlug sogar die als schier unbesiegbar geltende Michaela Schiffrin mit fast einer ganzen Sekunde. Michelle wurde Olympiasiegerin, als erste Schweizerin in der Alpinen Kombination der Geschichte. Allen Widerständen zum Trotz hat Michelle alle Hindernisse überwunden und sich und der Welt bewiesen, dass sie nicht nur Siegerin, sondern auch ein wahrer Champion ist.

Was Führungskräfte von Michelle lernen können

Wir haben alle Wünsche und Träume, aber manchmal scheint es, als wäre es unmöglich, sie wahr werden zu lassen. Probleme, die man nie erwartet hätte, tauchen auf und stellen uns vor grosse Herausforderungen. Die richtige Einstellung, die es für uns zu übernehmen gilt – so wie Michelle – heisst, nicht solchen Problemen aus dem Weg zu gehen, sondern sie anzunehmen. Uns unseren Problemen zu stellen, aus Niederlagen zu lernen und vor allem schnell wieder, guten Mutes, weiter nach vorne zu gehen, bringt uns aufs nächste Leistungslevel.

Michelles Triumph lehrt uns:

  • Erfolg kann man nicht erzwingen
  • Es gilt Härte zu beweisen, um Misserfolge messerscharf zu analysieren und davon zu lernen
  • Abschalten ist entscheidend – Enttäuschung sollen hinter sich gelassen werden
  • Die kommende Aufgabe mit voller Intensität und Energie angehen, den Blick nach vorne richten
  • Widerstände angehen – sie können uns besser machen

Der feine Unterschied

Manchmal sind es die kleinen Dinge, die die Guten von den Exzellenten unterscheiden. Diese kleinen Unterschiede sind oftmals gar nicht sichtbar für andere, seien es «verbrannte» Ski oder die positive Einstellung eines wahren Champions – eine Einstellung, die sich Widerständen annimmt.

Diese Einstellung können auch Sie annehmen – und in Ihrem Bereich zum Champion werden.

Ich wünsche Ihnen viel Erfolg.